Innerer Monolog: Ich sitze im Schulunterricht


Ich sehe aus dem Klassenfenster, das schräg links von mir ist. Es ist acht Uhr und stockdunkel draußen. Dunkel und kalt, so fühle ich mich. Erfroren in meiner Angst, was der heutige Tag bringen wird. Müde von der morgendlichen Hektik, mich hierherzuschleppen.

Ich bin 1712 Jahre alt und lebe in einem Traum. Manche haben mit 16 Jahren schon ein Kind, hat meine Mutter gestern gemeint, als sie mich auf meine Unselbstständigkeit und mein mangelndes Können hinwies. Schön wär’s …

Obwohl ich hier in der Klasse auf einem hellen Holzsessel sitze, bin ich nicht wirklich hier. Meine Devise lautet, alles zu vermeiden, wodurch ich irgendwie auffallen könnte … denn ich will nicht reden müssen. Keineswegs will ich zu einer Wiederholung drankommen, ich weiß gar nichts über nichts, was hier vermittelt wird an Wissen. Ich höre zwar die Worte, doch ich bin zu weit weg, um mir den Sinn bewusst machen zu können.

Jeden Tag hierherkommen ist wie ein Spießrutenlauf … ein Hasardspiel … Luftakrobatik … Fallschirmspringen und Bungee-Jumping in einem.  Der Druck, schnell alles noch abzuschreiben, was ich nicht gemacht habe; hastig noch etwas durchzulesen, was ich nicht verstehe und die ganze Zeit Angst haben, dass ich drankomme. Jeder Tag Bredouille und Misere. Immer wenn ich morgens eintreffe, weiß ich, dass ein Horrorstress vor mir liegt, aber ich weiß nicht, ob es zum Äußersten kommen wird. Werde ich bloßgestellt werden? Werde ich mich blamieren und werden alle sehen, wie peinlich ich mich fühle … und vielleicht auch bin? Welche Gefühle werden heute meinen Weg kreuzen, meinen Tag bestimmen? Gefühle, über die ich im Nachhinein wieder wegkommen muss, sie zu verarbeiten suchen werde.

Heute bin ich in einem besonderen Ausnahmezustand, da ich ein Referat halten muss. Unruhig rutsche ich auf dem Sessel herum, meine Hände sind eiskalt, die Beleuchtung im Klassenzimmer ist neongleich und es ist so finster draußen. Schließlich ist es so weit, ich höre den Lehrer meinen Namen sagen, ich erstarre, mein Herz rutscht mir in die Hose, doch ich stehe auf und bewege mich nach vorne zum Lehrerpult. Einige freundliche, nette Blicke treffen mich, das ist schön.

Als ich zu reden beginne, ist es mucksmäuschenstill, so dass man die Nadel im Heuhaufen fallen hören würde. Das auch noch, auf diese Weise wird man etwaige Fehler sicher noch eher vernehmen können. Aber es ist auch ein Kompliment, es fühlt sich an wie ein Kuss. „Ich will so sehr, dass ihr etwas von mir hält – auch ohne Leistung und Talent – doch ich habe so große Angst vor euch.“, scheine ich auszuströmen, zwischen den Zeilen zu sagen. Einerseits klebe ich mit meinen Augen an den Aufzeichnungen, andererseits blicke ich immer wieder in die Klasse. Erschrocken bin ich innerlich, als ich den Gesichtsausdruck einer Mitschülerin sehe. DER Mitschülerin, die ständig versucht, alle gegen mich aufzuhetzen. Sie verzieht das Gesicht auffallend herablassend und demütigend, zieht eine ganz verachtende Grimasse. Keiner außer mir scheint es zu sehen, aber ich will mir nichts anmerken lassen. Obschon ich immer wieder hinsehen muss, es verletzt mich unendlich. Ich fühle mich so alleingelassen und wertlos. Dennoch höre ich mich weiterreden, ich rede und rede, muss mich konzentrieren trotz meiner Abwesenheit. Ängstlich schaue ich den Lehrer an, der ganz hinten, am anderen Ende des Klassenraums steht. Es ist derselbe Lehrer, in den ich mich unsterblich verliebt habe. Zur Schule komme ich nur seinetwegen und wegen meiner Freundinnen, die ich sehr lieb habe. Ohne sie würde ich dies alles wohl kaum durchstehen. Falls ich jemals die Matura schaffen sollte, ist es auch ihr Verdienst, denn ohne ihre Mitschriften, ihr Mitgefühl und ihren Zuspruch bin ich auf verlassenem Pfad … einfach verloren. Heute trage ich eine graue Hose und ein enganliegendes schwarzes Shirt … nachher werde ich mit dem Geld, das mir meine Omi gegeben hat, noch shoppen gehen, denn es kann nicht sein, dass ich morgen vor meinem Kleiderkasten stehe und sagen muss: „Ich hab nichts anzuziehen.“ Zumal ich auf den Mann meiner Träume wirken will. Ab und zu mustert er mich und seine Blicke scheinen mich abzuwerten, dabei trage ich alles nur für ihn. Hält er mich für ein Flittchen? Ich bin das Gegenteil von einem Flittchen, sogar in meinen Vorstellungen, in meinen Gedanken, zumal ich nur ihn will.

(“Angela and Jordan –The Nicest Thing“ von Kate Nash, in der Serie „Willkommen im Leben“)

Stunden habe ich sicher schon damit verbracht, auf den Lehrerparkplatz zu spähen, um zu erfahren, ob sein Auto dort steht. Da ich immer wissen will, ob er da ist. Er ist der unnahbarste Mann der ganzen Schule, seine Distanz fesselt mich unermesslich, der perfekte Ausgleich zu meiner permanenten Gefühlsschwangerschaft. Ich liebe ihn. Sein Auto hat die gleiche Eleganz und Extravaganz, mit der er sich überall durchschlängelt, finde ich.

So gerne würde ich etwas sagen, meine Meinung mitteilen, jedoch, was habe ich schon zu sagen? Eigentlich will ich mich nicht ins Überstille und Geheimnisvolle verdrehen, aber ich kann nicht aus mir herauskommen. Niemand würde dies akzeptieren, alle würden mich für dumm halten. Nur ein Blick, der nicht sehr, sehr wertschätzend ist, ist wie ein Dolch ins Herz für mich. Und sei es, dass jemand einfach nur gelangweilt, schlecht gelaunt oder anderer Meinung ist, ich bin abhängig von der Meinung aller anderen. Nein, ich bin nicht frei, vielmehr sitze ich wie auf glühenden Kohlen, gefallen zu müssen, respektiert zu werden, angenommen zu sein.

Die Atmosphäre hier kommt mir immer so steril, hochgestochen und künstlich vor, da kann ich nicht einfach ganz locker über Banales reden, nichts, was ich sagen will, was mir einfällt, zum Beispiel über meinen Alltag, scheint gut genug, originell genug zu sein.

Ach, warum bin ich nach der vierten Klasse nicht weggegangen, warum glaube ich stets, dies durchziehen zu MÜSSEN, um niemanden zu enttäuschen? Es wäre mir vieles erspart geblieben. Ich zähle die Tage, bis die Schulzeit zu Ende ist …

Alles ist aufregend, zu aufregend für mein hochsensibles, überspanntes Nervenkostüm.

Das Referat ist zu Ende. Tausend andere Gedanken, die währenddessen mein Sein beherrschten. Hastig husche ich auf meinen Platz, bevor jemand eine Frage stellen kann. Unsagbar freue ich mich schon darauf, wenn ich heute nach der Schule nach Hause komme und die Begegnungen verarbeiten kann, träumen kann von der ganz großen Liebe.

Wie in Trance quäle ich mich durch den Schultag bis zur letzten Stunde. Der Unterricht findet im dritten Stock in einem Unterrichtssaal statt. Auf einmal dreht sich ein männlicher Mitschüler zu jener Schülerin um, die mich so herablassend angesehen hat während des Referats und gibt ihr einen kleinen Zettel mit dem Beisatz, sie solle ihn an mich weitergeben. Wie von der Tarantel gestochen, öffnet sie das kleine Briefchen und liest es.

Wieso kann ich mich nicht dagegen wehren und ihr sagen, dass ich das nicht will? Angst und Ohnmacht kriechen in mir hoch, bei der Vorstellung, sie damit zu konfrontieren, dass dieser Übergriff nicht o.k. für mich ist. Letztlich gibt sie mir das Briefchen, vom einen Ende der Reihe zur anderen. Nervös, gespannt und unsicher widme ich mich ihm.

„Wir finden dich total super. Deine Verehrer X, Y und Z.“, steht da. Das hätte ich echt nie erwartet, ich fühle mich so geflasht, regelrecht high. Very excited and very happy. Ich kann heute einfach in keinen Nachmittagsunterricht mehr gehen, ich fühle mich kräftemäßig ausgesaugt und gefühlsmäßig überladen.

Ein ganz „normaler“ Schultag mit Höhen und Tiefen, der absolute Wahnsinn und Realitätscrash. Da habe ich für den Nachmittag wieder viel zu überlegen und emotionszusegeln.

Ich bin 171/Jahre alt und lebe in einem Traum …

(“My So Called Life – The Substitute Scene)


Eine Antwort zu “Innerer Monolog: Ich sitze im Schulunterricht”

  1. Liebe Barbara,
    so ehrlich – so rein – einfach Barbara.

    Wie war der Titel des Songs heute in der Schreibzeit?
    „Einmal ist ein Tag ein ganzes Jahr“, so wunderbar ausgesucht von Christian für uns.

    Das war eben so ein Tag, den du beschreibst, der,
    wie in ganzes Jahr war. So vieles hatte er im Gepäck.
    So unzähliche Gefühle, Erlebnisse, Stresssituationen,
    doch zum Ende hin die Freude,
    über das, was auf dem kleinen Zettelchen stand.
    Und am Ende zählt die Freude und das Wachstum
    Dich liebe Barbara,
    haben all diese dramatischen und traumatischen Erlebnisse zu dem werden lassen was du heute bist.
    Eine tolle junge Frau, mit vielen verschiedensten Talenten und Fähigen.
    Eine Frau, die weiß was sie nicht will.
    Das zu wissen ist oftmals wichter, als das zu wissen was Frau will.
    Du hast Stärke, Stehvermögen und HERZENSBILDUNG.

    Das ein paar Gedanken von mir – für dich, liebe Seelenschwester.
    … von Herz zu Herz …
    M.M.

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